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Regine Alegiani
Psychotherapie als Öffnung zur Welt Mit einer Einführung von Kurt Hemmer Vandenhoeck & Ruprecht
Einführung in die psychoanalytische Psychotherapie Der treffend gewählte Untertitel – Psychotherapie als Öffnung zur Welt – des vorliegenden zweiten Therapieberichts von Frau Alegiani ist mein Bezugspunkt, von dem aus ich eine komprimierte Einführung in einige Grundgedanken der Theorie und Praxis der analytischen Psychotherapie entwickeln möchte. Wo sich etwas öffnet, war vorher etwas verschlossen. Verschlossen sind der lebendige, freudige Bezug zur Welt sowie die engagierte Selbstgestaltung und produktive Selbstbewegung. Die Autorin nimmt den Leser mit auf einen spannenden und bewegenden Weg. Allmählich entwickeln sich passende Schlüssel. Der Verschluss öffnet sich; die Lebensgestaltung gewinnt an Optimismus und Eigensinn. Das Ergebnis – Bewohntes Land. Einfühlsam, sensibel, ohne laute exhibitionistische Untertöne lässt die Autorin den Leser teilhaben an den Beweggründen, die mehr und mehr zur Selbstverriegelung führten, gleichwohl aber den Lebens- und Gestaltungswillen nicht gänzlich einschließen konnten. Meine Skizze der analytischen Therapie soll es dem Leser ermöglichen, die oftmals hoch emotionalisierten Szenen des Therapieberichts theoretisch und praktisch einzuordnen. Es bleibt zu hoffen, dass der angebotene analytische Sinnhorizont zu einem tieferen Verstehen und besseren Nachvollzug all dessen führt, was die Autorin auf ihrem Weg der Wandlung erlebt hat. Und, so die weitergehende Idee, dass der Leser zugleich sein eigenes Welt- und Selbsterleben in einen erweiterten Verständnishorizont stellen kann. Der analytische Behandlungsprozess weist gewisse Ähnlichkeiten auf mit Dantes Weg durch die Tiefenschichten der Hölle. Nicht allein geht er diesen Weg, sondern in Begleitung des römischen Dichters Vergil. Der Aufstieg zum bewohnten Land, die Öffnung hin zur Welt, in der »Göttlichen Komödie« ist es das Paradies, gelingt erst nach der Erkundung der tieferen, unbewussten Gefühlswelten.
Wer weder selbst eine analytische Behandlung erlebt noch sich darüber informiert hat, dem dürften gewisse Gefühle, Szenen, Trauminterpretationen, Patient-Therapeut-Interaktionen, über die die Autorin berichtet, merkwürdig, wenn nicht sogar befremdlich erscheinen. Die Fragezeichen mehren sich, werden die an den analytischen Prozess gebundenen Phänomene am Ziel der Behandlung gemessen: der Heilung, mindestens der Besserung des Leidens. Fördert es die Heilung, wenn der Analysand Abhängigkeits- und Liebesgefühle entwickelt? Wenn er in Ablehnungs-, Aggressions-, Hassaffekte gerät und darüber hinaus mit schmerzlichen Neid-, Rivalitäts-, Scham- und Schuldgefühlen in Berührung kommt? Wenn Trauer ihn erfasst? Heilt das alles wirklich: wenn all das Alte, lang Vergangene wieder aufgewühlt wird? Oder wird nur unnötig das mitgebrachte Leid verstärkt? Ist es da nicht besser, sich gleich einer Verhaltenstherapie anzuvertrauen?
Gezielt und ohne tiefere »Suche nach Grund«, insbesondere nach unbewusstem Grund, nimmt der Verhaltenstherapeut Symptome direkt in den Blick. Gemäß der Grundannahme, dass alles Verhalten, worunter auch Gefühle und Gedanken fallen, eine Lerngeschichte hat, regt der Verhaltenstherapeut Um- und Verlernprozesse an. Er hilft mit seinem Veränderungswissen dem Patienten, die komplexen und differenziert aufgestellten Umlernprozesse zu organisieren und erfolgreich abzuschließen. So wird nicht nach dem unbewussten Grund einer Depression, eines Angstanfalls oder einer Zwangserkrankung gefragt, sondern ein positives, ressourcenorientiertes Denken und Fühlen wird den negativen Gedanken und Gefühlen entgegengestellt und eingeübt. ( Hier möchte ich auf den ersten Therapiebericht von R. Alegiani hinweisen: Die späte Suche nach Grund. (2009) Vandenhoeck & Ruprecht).
Für die analytische Therapie beinhaltet das dynamische Unbewusste die Kräfte, die die psychischen und psychosomatischen Symptome am Bewusstsein vorbei erzeugen und am Leben erhalten. Und nicht nur das. Das Unbewusste bestimmt unsere Partner- und Berufswahl, nimmt großen Einfluss auf unser Sexualleben und Sozialverhalten und ist auf diese Weise entscheidend daran beteiligt, ob unser Leben gelingt oder misslingt. Da das Ich nicht »Herr in seinem eigenen Hause« (S. Freud) ist, geht es der Psychoanalyse um die Erforschung dieser unbewussten, unser Verhalten bestimmenden Motive und Gründe. Sie will das Ich möglichst darüber aufklären, was in ihm selbst vorgeht und wodurch sein Verhalten gesteuert wird. Die Psychoanalyse, um ein Beispiel zu nennen, will wissen, weshalb ein Mensch bis zur völligen Erschöpfung (Burnout) arbeitet, leistet und dabei seine Partnerschaften und sich selbst sowie das eigene Wohlergehen gänzlich aus den Augen verliert. Die Motive sind wahrscheinlich Anerkennung, Geltung, Perfektion. Aber was ist die tiefere Ursache für dieses hochgezogene Leistungsmotiv, das keine Grenzen mehr akzeptiert und das sogar bis in den Suizid führen kann? Die Psychoanalyse will also weiter zu den kognitiv-emotionalen Beziehungserfahrungen mit den relevanten Bezugspersonen vorstoßen, die letztlich dieses selbstschädigende Verhalten begründen. Unsere Persönlichkeit und somit unser Verhalten geht aus diesen Beziehungserfahrungen hervor, wenn auch unsere Veranlagung nicht ganz aus den Augen verloren werden darf. Aus analytischer Sicht liegen hierin die Ursachen für Angstanfälle, Zwangserscheinungen, Depressionen, Arbeitsstörungen, Versagensängste, Beziehungsprobleme, Sexualstörungen. Kurz zusammengefasst: Unsere Persönlichkeit sowie unser individuelles Verhalten gründen sich nicht vornehmlich auf Lernprozesse (Verhaltenstherapie), sondern werden durch frühe Beziehungserfahrungen generiert, die im Unbewussten abgelegt werden und subkutan weiterwirken. Die neurobiologische Forschung sowie die experimentelle Kleinkindforschung haben Belege dafür, dass diese unser aller Verhalten beeinflussenden Abspeicherungen schon von Geburt an vollzogen werden. Infolgedessen konzentriert der Analytiker seine Aufmerksamkeit auf entsprechende Manifestationen des Unbewussten. Da diese sich einem unmittelbaren Zugang verschließen, sich also nur indirekt zeigen, müssen sie langsam und Schritt für Schritt erschlossen werden. Das geht jedoch nicht ohne eine Überwindung gewisser Widerstände, die sich gegen ein Erhellen formieren. Alles, was wir Menschen verdrängt haben, war für uns im damaligen Erlebenszusammenhang sehr unangenehm, beschämend, ängstigend, mit Schuld, Strafe und Liebesentzug verbunden. Werden die Ereignisse erneut ins Bewusstsein gehoben, so kommen auch die damit assoziierten Gefühle ins Bewusstsein. Weil aber diese ins Bewusstsein strömenden Gefühle nichts von ihrer damaligen Qualität und Intensität eingebüßt haben, leistet unsere Psyche verständlicherweise Widerstand. Es formiert sich also genau gegen diesen Bewusstwerdungsprozess, der grundlegend ist für Gesundung, eine seelische Gegenbewegung. Der Analytiker bemüht sich nun in intensiver Zusammenarbeit mit dem Patienten, einen Zugang zu diesen verdrängten Beziehungserfahrungen herzustellen und die dabei auftretenden Widerstände zu erkennen und zu bearbeiten.
Die vorstehenden Ausführungen arbeiten den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Therapieschulen heraus, ohne jedoch letztlich entscheiden zu können, was für den einzelnen Patienten das bessere oder angemessenere Verfahren wäre. Auch die empirische Wissenschaft kann für diesen Entscheidungsprozess noch keine eindeutigen Hilfestellungen anbieten. Während also die Verhaltenstherapie auf Lernprozesse setzt und sich hierauf konzentriert, betont die Psychoanalyse die Selbsterkundung und die Erforschung des Unbewussten. Ein Mensch, der sich nun überlegt, eine Therapie und einen Therapeuten für sich zu suchen, sollte darauf achten, ob er, von seinem Interesse und seinem Gefühl her gesehen, sich mehr auf den Forschungs- und Erkundungsweg der Psychoanalyse einlassen will, ob er eine Reise ins eigene Unbewusste wagen möchte mit dem Ziel der Selbsterkundung, oder ob er an einer direkteren Behebung seiner Symptome interessiert ist, ohne über das Unbewusste gehen zu wollen. Der Analytiker ist für die Patienten auf diesem spannenden und emotional sehr bewegenden Erkundungsweg in die eigenen verschlossenen Tiefenschichten das, was in der »Göttlichen Komödie« Vergil für Dante ist: Er ist Führer und Begleiter. Auf diesen Weg ins menschliche Unbewusste nehmen uns auch die jahrhundertealten Märchen, Mythen, Sagen mit. Gleichermaßen führen Dichter, Komponisten, Filmemacher, Bildende Künstler auf diesen Weg, den zu gehen auch die Autorin gewagt hat und den mitzugehen sie uns in ihrem Buch anbietet. Entschließt man sich, diesen Weg auf sich zu nehmen, so wird nicht nur das Unbewusste erkundet und erforscht, sondern es kommen unweigerlich bedeutsame Lernprozesse in Gang. So wird der Patient in der Interaktion mit dem Therapeuten lernen, seine Probleme von einem Außenstandpunkt aus zu betrachten; ein für die kritische Selbstreflexion notwendiger exterritorialer Standpunkt wird allmählich etabliert. Nach und nach wird er lernen, differenzierter auf seine Gefühle und die Gefühle anderer zu achten. Der zwischenmenschliche Diskurs gewinnt somit an Tiefe. Er wird kooperativer und verständnisvoller. Wir lernen auf diesem Erkundungsweg weiterhin zwischen Phantasie, Wunsch und Realität zu unterscheiden. So wird das Machbare von dem Nichtmachbaren getrennt, das Machbare zur Verwirklichung gebracht, das Nichtmachbare ertragen und aufgegeben. All diese Lernvorgänge werden implizit durch den analytischen Weg angestoßen und eingeübt. Wäre all das vorstehend Skizzierte geleistet und die dazugehörigen Beziehungserfahrungen korrigiert, dann wäre der Mensch, der an einem Burnout-Syndrom leidet, ich darf nochmals auf das Beispiel zurückkommen, von seinem Leiden befreit. Ich selbst greife in meinem therapeutischen Vorgehen da und dort gezielt verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen auf; meistens wenn es gilt, gewisse Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen durch eine Konfrontation mit der Lebensrealität zum einen herauszuschälen und zum anderen durch Übung umzuformen sowie das Geformte durch Ermutigung und Übung zu festigen. Jedoch geschieht dies immer mit intensivem Bezug zum lebensgeschichtlichen Hintergrund und den frühen Beziehungserfahrungen. Die beiden therapeutischen Verfahren, wie man sieht, können bei aller Gegensätzlichkeit sich durchaus befruchten und ergänzen. Dieses Vorgehen wird auch von der Autorin detailliert beschrieben. Diese therapeutische Strategie findet in der Metapher des zu bestellenden Ackers und der zu erwartenden Ernte – oder auch Missernte – ihre bildhafte Konkretisierung. Das dem Leser vorliegende, nun zweite Buch der Autorin ist der sicht- und fühlbare Beleg für eine Früchte tragende Arbeit auf einem grundsätzlich fruchtbaren Ackerboden, der aber immer wieder bestellt, gehegt und gepflegt werden muss.
Die theoretische Psychoanalyse, die aus klinischen Beobachtungsdaten zur Annahme unbewusst wirkender Kräfte gekommen ist, kann sich inzwischen durch Daten der experimentellen Hirnforschung bestätigt sehen. Darüber hinaus konnte ebenfalls belegt werden, dass ein stabiler Besserungsprozess mittels Integration vormals unbewusster Inhalte angestoßen und zu einem guten Ende gebracht werden kann. Weil die unbewussten Kräfte das psychische Leid auslösen und, sofern sie weiter wirken, auch am Leben erhalten, gilt die ganze Aufmerksamkeit diesen Wirkgrößen. Darüber hinaus bestätigten die Forschungsergebnisse das, was die Psychoanalyse mit dem Begriff des Durcharbeitens zu fassen versucht. Es geht, direkter gesprochen, hierbei auch um ein Sich-Konfrontieren, um Üben und Sich-Bemühen. Denn neue Nervenverbindungen, die Änderungen im Verhalten, Denken, Fühlen und Wollen speichern, müssen wachsen. Kurz: ohne Veränderungen im Gehirn keine Veränderungen im Verhalten. »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« (Goethe, Faust, Zweiter Teil)
Die Autorin lässt den Leser Anteil nehmen an den Erkundungsprozessen ihres Unbewussten. Dabei skizziert sie auch die technischen Möglichkeiten, die dem Analytiker zur Verfügung stehen, um unbewusste Kräfte und Konflikte herausarbeiten zu können. Dies sind Traumdeutung, mikroanalytische Untersuchungen außertherapeutischer Ereignisse und Verhaltensweisen, Tagträume, Phantasien und das Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen. Alle genannten Verhaltensbereiche reflektieren auf die eine oder andere Weise die frühen, im Unbewussten abgelegten kognitiv-affektiven Beziehungserfahrungen mit relevanten Bezugspersonen. Besonders möchte ich mich mit dem Übertragungs-/Gegenübertragungsgeschehen befassen, weil dieses zum einen den unmittelbarsten Zugang zu den frühen Beziehungserfahrungen ermöglicht und zum anderen beide Bücher der Autorin sich um die Beschreibung dieser faszinierenden Phänomene zentrieren. Das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen beschreibt alle kognitiv-affektiven Aktionen und Reaktionen, die sich bewusst/unbewusst zwischen Analytiker und Patient aufbauen oder sich auch ganz spontan einstellen. Diese sich aus der Begegnung formenden Phänomene sind nicht auf den therapeutischen Raum beschränkt, sondern zeigen sich überall, wo Menschen miteinander in Kontakt treten. Unter dem Begriff »Übertragung« werden alle unbewussten Strebungen verstanden, die interagierende Personen aneinander herantragen. Unter Gegenübertragung fallen die Gefühls- und Reaktionstendenzen, die die Person spürt, auf die sich die Übertragung richtet. Die Gegenübertragung kann als eine Art Antwort, als ein Echo auf die Übertragung angesehen werden. Wird der Prozess der Übertragung inhaltlich aufgeschlüsselt, so erscheint mir mein Gegenüber so, wie meine unbewussten Beziehungsmuster ihn mir vorschreiben. Es legt sich ein unbewusstes Wahrnehmungsschema, das die frühen Beziehungsszenen reflektiert, über die Außensituation und lässt diese so erscheinen, als wäre das Außen nun mit dem Innen identisch, mindestens sehr ähnlich. So kann es vorkommen, dass mein Gegenüber – mein Lebenspartner, mein Chef, meine Kinder – in ein frühes, kognitiv-emotionales Schema rutschen und ich mich ihnen gegenüber gemäß diesem Schema verhalte. Es kann dann gespenstisch genau im momentanen Begegnungsprozess zu einer Art Auferstehung alter Geister kommen. Ich kann mich dann dem Partner gegenüber so verhalten und fühlen, als wäre er eine der primären Bezugspersonen. Ich selbst erlebe mich infolgedessen als das abhängige, ängstliche, neidische, unterdrückte, aber auch bockige, freche, unverschämte, schonungsbedürftige Kind. Oder ich selbst, weil auch dies ja in mir gespeichert ist, übernehme die Rolle meiner primären Bezugsperson und behandele meinen Partner so, wie ich selbst in der Kindheit behandelt worden bin oder wie ich es mir gewünscht habe, behandelt zu werden. Der Analytiker, auf den sich die Übertragung richtet, nimmt diese in sich auf und entwickelt eine Gegenübertragung. Auf einer inneren Bühne bilden sich im Analytiker, angeregt durch diese unbewussten Informationsübermittlungen, affektiv bedeutsame Szenen, die wichtige, dem Patienten unbewusste Beziehungsaspekte widerspiegeln. Der Analytiker lässt sich also einbeziehen, ohne jedoch in der Szene aufzugehen. Obwohl er mit einem Bein in der Szene und den damit einhergehenden Emotionen steht und mitspielt, bleibt er mit dem anderen Bein außerhalb der Szene stehen. Diese Distanznahme, bei gleichzeitiger szenischer Teilhabe, erlaubt es ihm, seiner Funktion zu analysieren weiterhin nachzugehen. Hat er aus dieser inneren Teilhabe heraus verstanden, was er miterlebt hat, so wird er seine Erkenntnisse dem Patienten mitteilen und ihn zu einer Überprüfung und weitergehenden Erkundung anregen. So kann in den inneren Szenen sich der Analytiker angeregt fühlen, die nährende, beschützende Mutter zu sein, er kann sich fühlen wie ein idealer Vater und Liebhaber, aber auch wie ein sadistischer Verführer und Vergewaltiger. Er kann sich klein, ohnmächtig, ängstlich, ausgeliefert fühlen, neidisch und dumm. Dies hängt davon ab, ob der Analytiker sich mit den Beziehungspersonen und mit deren Fühlen und Handeln identifiziert oder mit den Gefühlen und Verhaltensweisen des Kindes, das diesen Personen ausgesetzt war. Gleiches gilt für den Patienten. In ihm sind natürlich diese frühen Beziehungserfahrungen zeitgleich aktiviert. Gelingt über den Deutungsvorgang des Analytikers eine Distanznahme, dann beginnt der Prozess des Durcharbeitens und der Integration. Das Ich des Patienten erfährt auf diese Weise mehr über das, was sich in ihm selbst auf tieferen Schichten abspielt. Sein Einsichts- und somit Herrschaftsbereich über sich selbst wird erweitert.
Es ist nicht alltäglich, dass ein Mensch mit fast 70 Jahren sich einer derartigen Selbsterkundung stellt und diese dann noch mit gutem Erfolg für sich beendet. Es ist zu hoffen, dass durch die beiden Bücher gerade ältere Menschen ermutigt werden, den Schritt in eine therapeutische Behandlung zu wagen. Denn die Probleme und emotionalen Verstrickungen nehmen im Alter nicht ab, sondern in der Regel zu. Der Prozess des Älterwerdens und der Zustand des Altseins sind genauso wenig wie die Kindheit ein Ort des Glücks und der Zufriedenheit, nur weil beide Lebensphasen meist von der Notwendigkeit der täglichen Arbeit und vieler anderer Pflichten befreit sind. Ausgeprägte Schamgefühle sind bei älteren Menschen oft festzustellen, so meine Erfahrung, die sie daran hindern, sich einer professionellen Hilfe anzuvertrauen. Haben sie doch das Klischee des reifen, abgeklärten, über allem stehenden, wissenden älteren Menschen zu erfüllen. Das Bild der glücklichen Großeltern, das Bild eines zufriedenen Ruhestandes, natürlich mit einer erfolgreichen Lebensbilanz im Rücken, erweist sich in der Regel als ein kollektives Abwehrmuster. Dieses Abwehrmuster wird gegen all das errichtet, womit sich die Autorin in bewundernswerter Weise auseinandergesetzt hat. Unsere gemeinsame Arbeit führte die Autorin und zugleich auch mich heran an die unabwendbaren dunklen, bedrohlichen Tatsachen des Älterwerdens. Hier sei nochmals auf die Allgegenwart des Übertragungs-/ Gegenübertragungsgeschehens hingewiesen. Entkommen wir diesem Abwehrmuster, dann begegnet man dem unaufhaltsamen körperlichen Verfall, der Sehnsucht nach jugendlicher Vitalität, Sinnlichkeit und Attraktivität, der nachlassenden geistigen und physischen Spannkraft und den nun sehr begrenzten Zukunftsentwürfen. Wir setzen uns mit dem gelebten Leben auseinander, mit den erfüllten und gescheiterten Lebensträumen. Wir beerdigen, und nun endgültig, manche Wunschvorstellung. Wir leisten Trauerarbeit, die dann den Weg frei macht und den Blick schärft für das noch Machbare. Wir setzen uns mit dem Tod auseinander und fragen im Anblick dieses eigentlich unmöglichen und unerhörten Ereignisses nach dem tieferen Sinn des Lebens. All dies und die zuvor referierten Auseinandersetzungen haben am Ende zu dem geführt, was die Autorin als von Selbsttäuschungen befreite Öffnung zur Welt erlebt und beschreibt. Spät zwar und daher umso wertvoller ist das Gefühl, nun in einem bewohnbaren Land zu sein und so als ehemals Vertriebene doch noch eine Heimat gefunden zu haben. Ich hoffe, dass diese Gedanken und Hinweise dazu verhelfen, mit noch mehr Gewinn den folgenden Therapiebericht zu lesen. Zum Schluss noch ein wichtiger Hinweis auf die Reichweite der analytischen Therapie. Mit Glück und Anstrengung, so äußerte sich schon Freud, können wir das neurotische Elend beheben. Das normale, alltägliche Elend jedoch nicht. "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen" . Mit diesem pointierten Ausspruch von Albert Camus möchte ich meine Einführung beenden. |